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ПЕРЕВОДЫ НА НЕМЕЦКИЙ ЯЗЫК
 
Wjatscheslaw Iwanow
 
SWÄTOMIRS HEILIGENLEBEN
 
BUCH I: WOLODAR
 
I.
1 Anhebt die Mär von Swätomirs Wanderschaft und dem Wunderpfeil, so Gott ihm gegeben zu Aller Heil.
2 Denn Landesflucht war ihm von Kind auf beschieden, und seinem Jugendalter fährliche Wanderung,
3 Eine zwiefache Wanderung über Erdenrund und Todesschlund und eine zwiefache Versuchung durch Ohnmacht und Wanderschaft,
4 Auf daß er in Entsagung erprobt und mit Keuschheit gewappnet werde für die Heimkehr als Reichserbe nach seines Vaters Wolodar Tod und der Rachegeister Auftoben,
5 Christi Zeuge zu sein gegen die Gewalthaber der Finsternis,
6 Zu stiften ein neues Reich der Gerechtigkeit, eine Friedensfeste der Menschen guten Willens.
7 Heimatlos fürwahr sollte er wallfahrten bis zu seiner Heiligung, indessen der Vater des Jünglings daheim waltete als Alleinherrscher über unzählig Land und Volk,
8 Und fremde Könige um seine Huld warben, und die Welt voller war seines Ruhmes,
9 Und Sänger mit einstimmten in sein Lob und kündeten:
 
Von Gold an Pracht, von Eisen an Macht
Ist des Zaren Wolodar Thron:
Denn eisern war seine Königstracht,
Als in Scharen die Feinde flohn;
Doch als er den Frieden ins Land gebracht,
Nahm er Weisheitsgold zur Kron’.
 
Aller Mund hat Wolodar gros genannt:
Wer zollt ihm nicht Preis und Ehr’?
Er streckt seinen Arm aus wohl über das Land
Vom eis’gen zum lauen Meer;
Weil er führet als Zepter in seiner Hand
Sankt-Georgs, seines Ahnen Speer.
 
10 Das Volk aber mühte sich im Frondienst ab, und es trug das Land des Reiches Last.
11 Als Retter war er einst aufgestanden in der bittersten Not; und nachdem er Ruhe und Eintracht gesichert hatte, dem Feinde wehrend, im Innern ordnend, erhob er aus Trümmern das lockere Reich zu einer unerhörten Herrlichkeit.
12 Nicht ererbt hatte Wolodar den erhabenen Sitz, sondern er ward von Gott aufgerichtet und von der Kirche ausgerufen als Schirmer der Christenheit und vom einhelligen Willen des Volkes mit der Fürsten Zustimmung eingesetzt zum Landesherrn,
13 Bei untrüglichen Gnadenzeichen, so ihm durch Sankt-Georg, seinen Vorfahr, zuteil worden, sintemal er der letzte Sproß war von der Wurzel des heiligen Kriegers.
14 Seines Lebens denkwürdiger Lauf vor dem Antritt der Königschaft und seines gesegneten Sohnes Geburt soll nun im folgenden getreuen Bericht unumwunden der Reihe nach erzählt werden.
 
II.
1 Fortlebt die Sage im Gedächtnis der Menschen: Jegórij der Tapfere (denn also klingt Sankt-Georgs Name im heimischen Gespräch und Gesang) habe sechs Waldschwestern gehabt, so in Bäumen wohnten.
2 Die soll er heimgesucht und erlöset und getaufet haben, da er Wüste und Wildnis von bösen Geistern säuberte und Wald und Welle segnete im Namen des Heilands.
3 Nicht straft Lügen die Kunde, wer sie zu deuten weiß: wahrlich hatten sie in der Nacht des Aberglaubens gesessen, wie in einer Waldung Finsternis, ehe des Wortes Strahl sie erleuchtete aus ihres leiblichen Bruders Munde.
4 Dieser von den Wassern der Taufe reingewaschenen seligen Frauen Söhne und Enkel aber wurden vor Christo abtrünnig, dieweil sie ihrer Väter Teufeldienst und Zauberei lieber hatten denn die mütterliche Unterweisung,
5 Außer Einem Christi Bekenner verschollenen Namens, der noch in jungen Jahren zu Tode gemartert ward.
6 Da befiel jene Teufelsdiener eine rasende Wut und hetzte sie gegen einander auf, und sie rotteten selbst ihre Sippschaft schier aus im blutgierigen Hader.
7 Der Recke Gorynja allein, Jegórijs Großneffe, entkam dem Verderben; zwei Söhne hatte er, die gelten als Ahnherren der beiden Zweige des Fürstengeschlechtes Gorynski.
8 Jene Verruchten aber sind im Leumunde Drachenbrut zubenamt worden: schwarze Blutflut soll ihre Mutter befruchtet haben, die in Strömen stürzte aus dem Rachen und Leibe des Lindwurms, so der heilige Jegórij mit seinem sonnenstrahlichten Pfeile durchbohrt.
9 Also streuet en Einfältige eitel Gefabel; andere Unwissende ersannen Ärgeres: die sechs Waldfrauen sollen im Dickicht Schlangenherden geweidet und sich mit Schlangenkönigen verkuppelt haben.
10 Der Drachenbrut aber hatten die Älteren wohl in Sinnrede gedacht, um die Bosheit der Frevler zur Schau zu stellen und zu brandmarken; die Jüngeren haben aus Gleichnis und Schaltwort eine Mär ausgesponnen
vom Urahnen Lindwurm.
11 Zumal wandernde Sänger mancherlei vorzulügen wissen vom Bergdrachen Gorynitsch, der gleichen Namen führt mit dem übrig gebliebenen Fürstenstamme.
12 Wie denn auch in hellenischen Fabeln erzählt wird von der Drachenzahne blutiger Saat.
13 Hätten ja auch jene Gottesverächter, den kadmeischen Riesen gleich, sich selber aufgerieben im brudermörderischen Streit.
14 Streiten aber taten sie um einen öden Fleck Landes, woselbst, wie es verlautete, der Himmelsbote Jegórij vor dem Heimgang seinen Sonnenpfeil hatte in die Erde getrieben.
15 Denn sie waren von Sehern belehret worden: wer sich des Pfeiles bemächtige, der solle über die ganze Erde Herr werden.
16 Welchen Orts aber der Pfeil verhohlen stecke, davon waren sie nicht unterrichtet, noch konnten sie den Schatz finden, wenn sie gleich den ganzen Acker danach durchgewühlt hatten.
17 Und so verstummte denn das Gerede vom vergrabenen Wunderpfeil, und die brünstige Gier verglomm, und der Blutacker lag verwildert.
 
III.
1 Neue Zeiten waren herangebrochen, die Urwälder gelichtet, und reißende Tiere geflüchtet vor Axt und Pflug, und Städte erbauet worden an schiffbaren Flüssen.
2 Es blieben damals über vom Gorynskigeschlecht nur noch zwei Männer, je einer aus jedem Zweige; David und Boriwoj hießen sie; nie waren sie einander zu Gesichte gekommen.
3 Denn jener hatte den uralten Fürstensitz inne im waldreichen Mittelland, dieser saß fern abseits in der morgenländischen Steppe.
4 Und da sie keine Mannserben hatten, beklagten die Gutgesinnten das nahe Erlöschen des glorreichen Namens.
5 Vermählt war David mit der schönen und klugen Wassilissa Mikulina aus den fürstlichen Nachkommen des Hünen Mikula Sseljaninowitsch, des ersten Pflügers.
6 Gottesfürchtig waren die Eheleute und menschenfreundlich, aber kinderlos, obzwar nicht mehr jung an Jahren.
7 Da ward ihnen ein unverhofft Gluck zuteil: siehe, ein Sohn ist ihnen beschert worden, der lang Ersehnte.
8 Dem war es bestimmt, über das ganze Land zu walten, wie er denn auch Wladar, das heißet Walter, von denen, so ihn erkoren, benannt ward; anders Wolodar, nach der heimischen Mundart Klang.
9 Eines mächtigen Sohnes Geburt war der Mutter noch in ihrer Jungferschaft durch ein Traumgesicht vorbedeutet worden.
10 Es träumte Wassilissa, als lustwandele sie auf einer grünen Au mitten
im Gewimmel heiterer Gespielinnen und staune: vonwoher seien so viele blühende Jungfrauen zusammengelaufen? sie könne ja keine am Gesicht noch am Gesang erkennen.
11 Und siehe, da schwebet nicht gar zu hoch über der Wiese eine goldpurpurne Wolke her, gleichwie ein lichter Kahn auf dem luftigen See, ihr entgegen, und darauf stehet der heilige Jegórij selbst, ein hehrer Jüngling in güldenen Gewaffen; eine Lichtlanze schwingt er.
12 Und wie sie von der Wolke überschattet war, da schleuderte er seine Lanze herab und traf sie in den Scheitel mit dem spitzen Strahl; und es drang ihr der Strahl durch den ganzen Leib vom Scheitel bis zur Sohle hindurch und vergrub sie in die Erde tief, und es reichte ihr die feuchte Erde bis auf die Brüste.
13 Es tuschelten unter sich Wassilissens Gefährtinnen, als sie die Kunde vom Traume vernommen, und flüsterten einander ins Ohr: «Der feuchten Erde Ruf, eine frische Gruft, ein frühes Grab».
14 Nachdem aber der Fürst David Gorynski um sie gefreiet hatte, wahrsagten ihr weise Traumdeuter nicht Leichentuch und Sarg, sondern Liebesglück und Leibessegen:
15 Willens sei der Heilige durch ihren mütterlichen Schoß, der ja die Mutter Erde selbst sei, in seinem versiegenden Geschlechte einen neuen Ruhm erglänzen zu lassen.
16 Deswillen harrte Wassilissa des verheißenen Sohnes seit ihrer Brautnacht bis zur nahenden Silberhochzeit fortwährend im unerschütterlichen Vertrauen auf Gott; doch wohl zwanzig und zween Jahre vergingen, der Segen aber blieb aus.
 
IV.
1 Im Hochsommer war es, am Eliastag, der Gewitter bringt, sonnigen Nachmittags: ging müßig die Fürstin vor sich hin durch Heide und Hain
2 Und kam verträumt an den waldichten Ort, den die Leute aus der Umgegend mieden: Jegórij Blutacker hieß das Gehäge, und heilige Scheu hatte man, es zu betreten.
3 Eine buschige Halde sieht sie mitten im Forst und eine uralte Eiche oben darauf, vom Himmelblitz halb versengt; und ein Silberquell sprudelt hervor unter den Wurzeln des Eichenbaums; murmelnd hüpft er auf grünem Moos und glatten Kieseln hinunter und plätschert und glitzert lieblich im sanft durchschimmernden Sonnenglanz.
4 Und sie betrachtete eine Weile mit innigem Wohlbehagen den munteren
Quell, wie die Mutter ihr tändelnd Kind; dann gedachte sie aber ihrer Unfruchtbarkeit, und es über kam sie nach kurzer Freude eine tiefe Trauer.
5 Da, rief ihr eine vorüberwallende Greisin zu, die von fern her sie durchs Gebüsch beguckte, und sprach zu ihr: «Kümmere dich nicht, gräme dich nicht, du liebe Seele!
6 Dies ist Jegórijs eigner Baum, dies ist sein heiliger Born: trinke daraus mit Gebet und geh’ guter Hoffnung heim, denn es gewittert».
7 Und nach diesen Worten verschwand die Greisin im Waldesdickicht; Wassilissa aber verrichtete ihr Gebet an den Heiligen, trank eiskalt Wasser aus der Quellenader und kam eilends nach Hause vor dem Gewitter; schwanger ward sie in derselben Nacht.
8 Und sie gebar ein männlich Kind an Jegórijs Frühlingsfest; David aber ließ den Knaben auf seines Vaters Namen Lazarus taufen.
9 Und zum Tauftage befahl er die alte Eiche zu fallen und ein großes Kreuz aus dem Eichenstamme auszuhauen, — aus ganzem Holz sollte es gemeißelt werden, wo der Schaft am dickesten sei, — und St. Georgs Heiligenbild ins Kreuz einzuschnitzen, und den Quell in das selbige Holz einzufassen und mit einem Schutzdach zu überdecken aus demselben Holze, und das Kreuz aufzurichten über dem Brunnen.
10 Und es priesen die Eltern des Knaben den Herrn, und wunderlich war ihnen zu Mute, als wäre ihrer Jugend Sonne wieder aufgegangen und ihr Herz aufjauchzte, wie ein sprudelnder Quell.
 
V.
1 Der Knabe wuchs heran schön und schlank, geschmeidig und gewandt, an Leibesstärke seinen Gefährten nachstehend, an Ausdauer überlegen;
2 Feurigen Geistes; jähen, doch rasch gedampften und vorübergehenden Zornes; in Gedanken hochfahrend, in Wort und Tat zurückhaltend und mäßig;
3 Auf der Jagd wie in Wettspielen flink und kühn; scharfen Verstandes;
lernbegierig;
4 Den Eltern gehorsam; im Umgang mit den hörigen Leuten und den auf Wallfahrt oder auf Handel vorbeiziehenden Gästen artig.
5 Und bis zu seinem vierzehnten Lebensjahre zeigte er sich mitunter vor seinen Ebenbürtigen bald übermütig ohne Prahlerei, bald aufbrausend ohne Heimtucke und Rachsucht.
6 Seitdem aber etwas wunderliches ihm um diese Zeit bei einem Knabenstreiche widerfahren war, änderte er seinen stolzen Sinn, und man merkte ihm nichts mehr von früherem Hochmut an.
7 Es begab sich nämlich eines Tages, das er von seinen Spielgenossen, etlichen Fürstensprösslingen und Bojarensöhnen, die auch eine Anzahl junges Volk nicht adeligen Standes aufgeboten hatten, zum König erkoren ward, um einen Heerzug waldein zu fuhren;
8 Worauf sein um zwei Jahre älterer Anverwandter mütterlicherseits, namens Waska Schirjata, neidisch wurde; und er begann auf Lazarus zu schimpfen und schalt ihn, auf seinen berüchtigten Wurmahnen anspielend, einen Otterling, und forderte ihn zum Faustkampf heraus.
9 Da sagte Lazarus: «Unziemlich ist es dem Könige, sich mit seinem Lehnsmann einzulassen; wohl aber gebührt es dem Herrscher, Gericht zu halten und die Todesstrafe verhängen zu lassen über den Aufständischen.
Auf, ihr Knappen! schlaget mir den Frechen in Bande!»
10 Und so sehnig der Bursche auch war, so bezwang ihn doch der eifrige Haufen und lies ihn unter einem Baume gefesselt liegen, wonach die Gespielen sich im Walde zerstreuten und von fern hohnlachten über sein Schreien und Toben,
11 Als plötzlich seine Stimme verstummte, vom Wolfsgeheul überdröhnt, das sich von eben dem Orte her vernehmen lies, wo der Sträfling lag, und die Jungen erschraken.
12 Lazarus aber stürzte, wie ein Rasender, zu Richtstatte hin, dem im Stich Gelassenen beizuspringen, und sieht daselbst eine grimmige Wölfin mit dem aufgesperrten Rachen über dem Regungslosen stehen.
13 Und die Haare borsteten sich ihr auf dem Rücken vor Wut, sie zauderte aber anzufallen, als ob sie jemandes harrte.
14 Und wie sie des Knaben, der auf sie mit einer wehrenden Gebärde zulief, gewahr worden, bog sie den Kopf nach rückwärts auf und wich mit langem Geheul in die Waldestiefe zurück.
15 Nun schickte er sich eben frischweg an, den Gefangenen loszubinden, als er jählings in Zuckungen darnieder fiel verzerrten Angesichts, und der Mund schäumte ihm über, und er erstarrte auf kurze Zeit.
16 Kaum hatte sich aber die verscheuchte Schar wieder gesammelt, um
sich zu beratschlagen, sprang er schon auf wackeren Muts und söhnte sich mit seinem Gegner fröhlich aus.
17 Von da an faste dieser vor seinem jüngeren Vetter Ehrfurcht und Scheu: zeitlebens schauderte es ihn, sich dem Schützling Jegórijs zu widersetzen, dieweil der Heilige im Leumunde heißet: der Wölfe Hirt.
18 Lazarus aber ermahnte die Genossen, niemandem zu erzählen, was sich da ereignet hätte, und lies fürderhin nicht ab, sein heftig Wesen zu zügeln, fest entschlossen, nimmermehr von der besonnenen Ruhe und Langmut abzuirren.
19 Auch als reifer Jüngling wurde er als Vorbild bescheidenen Edelmuts und keuscher Tugend angesehen.
20 Damals lebte er aber nicht mehr im elterlichen Hause; denn sein Vater hatte ihn namhaften Wojewoden anbefohlen, damit er die Kriegskunst zu Felde erlernen sollte, und von diesen ward er seiner Tüchtigkeit wegen höchlich gelobt.
 
VI.
1 Es war David zu den Ohren gekommen, Boriwoj habe eine wunderschöne Tochter, halte aber die Freier fern, und er sendete zu ihm in die abgelegene Mark seine Mannen mit der Botschaft:
2 «Grus und Heil entbeut dir dein Blutsverwandter David und läßt deiner Gnaden künden:
3 Ware hast du, wir stellen den Käufer;[1] eine holde Jungfrau ist dir im Hause erwachsen, uns ein wackerer Sohn.
4 Laß uns durch der lieben Kinder Heirat unser gespalten Geschlecht, an Ruhm und Besitztum reich, zusammenfügen, auf, daß es zum Horte sei dem Vaterland in Bedrängnis.
5 Wer täte ja sonst für Land und Volk sorgen, stunde St. Georgs Blut nicht dafür ein?»
6 Mürrisch ward der Fürst, da er auf den Bescheid warten mußte, und straubig, wie ein grollender Adler.
7 Nicht groß war er an Wuchs, und am Leibe hager, von feinen Gliedmaßen und dunkler Hautfarbe; einem Raubvogel ähnelte er an Gesicht und Gebaren.
8 Die Fürstin aber betete zu Gott Tag und Nacht und stieß tiefe Seufzer aus; da gestand sie endlich dem Gemahl ihren Gram:
9 «Weder kann ich’s loswerden, noch ergründen, wie es zugehe, das eine lautlose Stimme mir immer wieder zuflüstert — bald: „Zugedacht, nicht zugesagt“, bald: „Zugesagt, nicht zugedacht“; Angst und Beklommenheit flößt sie mir ein.
10 Auch habe ich letzthin geträumt, als wäre sie bei uns, Boriwojs Tochter; gar schön erschien sie mir im Traume, doch gar zu traurig; große dunkle Augen hatte sie, voll trostlosen Kummers; und sie ruhte neben Lazarus auf einem prächtigen Lager, dazwischen lag aber ein nackend Schwert».
11 David brummte mißmutig zur Antwort seinen selbstgeschmiedeten Reimspruch her, der just so viele Jahre wie Lazarus zählte:
 
Hätten die Träume der Weiber Kraft,
Früh wärest du mir weggerafft,
Lägest in kühler Erde begraben,
Würdest nie einen Sohn geboren haben, —
 
und ritt mit seinem Lieblingsfalken davon, nach Wildgänsen zu jagen.
12 Die Gesandten kamen unverrichteter Sache heim und meldeten: «Ein Ehrenempfang ward uns vom Fürsten zuteil, und er lies eueren Liebden seinen Dank sagen für Huld und Ehre.
13 Den Antrag aber schlug er ab: seine Tochter sei mit einem tapferen Ritter versprochen, den er als Vormund an Sohnes Statt erzogen habe.
14 Zu Trost und Stütze sei ihm der treue Pflegesohn vom Himmel gegeben worden nach seines spurlos verschwundenen leiblichen Sohnes bitterem Verlust».
15 «Solches», berichteten die Boten weiter, «redete Boriwoj, mit gerunzelter Stirn zu Boden blickend; dann schaute er lächelnd auf und sprach gleichsam im Scherz:
16 „Auch steht es uns, geharnischten Steppenreitern, nicht wohl an, mit euch, großen Herren, so ihr in Üppigkeit schwelget, einen Sippschaftsverband aufzurichten.
17 Euch ist für die Nachtruhe wohl kein Pfühl weich genug, wir aber nehmen’s mit dem Sattel fürlieb.
18 In eueren Landen, schwatzen die Leute, liege Jegórijs Pfeil von der Erde verschüttet, und niemand hört ihn schwirren, indessen unsere Pfeile in den Köchern summen, wie Bienen im Bienenstock.
19 Darum lobe ich aber den Fürsten David, weil er einsam sitzet wie ein herrischer Adler in seinem Neste und sich nicht herabläßt zum Gesinde von Höflingen, um Gunst und Gewinn zu buhlen“».
20 Erbittert, befahl David das Fehlschlagen des Unternehmens vor seinem Sohne geheim zu halten.
 
VII.
1 Es hing Lazarus dem tatkräftigen jungen Fürsten, Simeon Igorewitsch Uprawda, inniglich an.
2 Der treuherzige blonde Recke hatte sich seines jüngeren Waffenbruders
liebreich angenommen und ließ ihn in blutigen Treffen nicht aus den Augen, damit sich der Neuling aus Übereifer und Unerfahrenheit keiner unnützen Gefahr aussetze.
3 Er unterwies ihn in Waffenkunst und Rittersitte; auch trug es sich auf einer Hetze zu, daß er ihn halbtot abrang einer wütigen Bärin.
4 Und der Jüngling war ihm von Herzen zugetan, und sie tauschten ihre Brustkreuze um, nach der frommen Gepflogenheit der sich auf Leben und Tod Verbrüdernden, die auf diese Weise ein Gelübde tun der unverbrüchlichen Brudertreue.
5 Früh verwaist, war Uprawda unter Boriwojs Obhut und Zucht aufgewachsen; noch im Knabenalter ritt er mit seinem kampflustigen Vormund als Schildknapp aus auf kriegerische Abenteuer.
6 Und als der längst verwitwete alte Mann seinen Mündel entließ, versprach er ihm als Lohn des erwiesenen Heldenmuts seine einzige Tochter zur Ehefrau.
7 Heftig und dreist, war Boriwoj ein Schrecken der Ungläubigen; am Steppenrande angesessen, schlug er sich mit den herumschweifenden Zeltbewohnern in immer neu entglimmender Fehde.
8 Nunmehr eilte Simeon Uprawda als Nachbarfürst mit seiner auserlesenen Mannschaft ihm zu Hülfe, sooft eine neue Horde allzunahe heranrückte.
9 Seine schöne Tochter liebte Boriwoj über alles auf Erden; nur in ihrer Nähe sah man ihn ruhig und wohlgemut; und sie war auf ihren Vater stolz und erwiderte die Glut seines einsamen und verfinsterten Herzens mit zärtlicher Gegenliebe.
10 Auf Knabenart hatte er sie erzogen; sie nahm es mit der männlichen Jugend der fürstlichen Feste in Schützen- und Reitkunst auf und genoß eine anderswo den Jungfrauen durch Sitte und Satzung vorenthaltenen Freiheit.
11 Keine Busenfreundin hatte sie, noch nahm sie an Festspielen und Reigen der hörigen Mägde teil; lieb war es ihr, die umliegenden Wüsteneien einsam zu durchstreifen.
12 Sie pflegte, in der Steppe irrend, wunderliche Lieder vor sich hin zu singen und geheime Krauter zu sammeln, deren Kraft und Gebrauch sie in den entlegenen Ansiedelungen landesflüchtiger Ketzer erlernt hatte.
13 Bei der Nachbarschaft war sie, obzwar hülfreich und der Heilkunst beflissen, doch nicht beliebt, ihre heilende Kraft aber der Zauberei berüchtigt und als Seelenverderb befürchtet; man mutete der Fürstentochter ein Hellsehen, aber man schrieb ihr auch eine stille Besessenheit zu.
14 Ihren Bräutigam, der angesichts der Feinde ein Löwe, sonst aber in all seinem Tun sanft und milde war, ehrte sie wie ihren älteren Bruder und herzte ihn traulich und hold.
15 Sooft er aber das Gespräch auf die Heirat hinleitete, die er beschleunigen wollte, wies sie seine Zureden mit einem abschlägigen Kopfschütteln von sich und heftete unheimlich ihren dusteren Blick auf die weite Steppe,
16 Als wäre sie eines von fernher wetterleuchtenden schwarz wolkigen Schicksals gewärtig, das sie zu bewillkommnen schien dem dräuenden Graus zum Trotz.
 
VIII.
1
Das Unheil wehte, — finster türmtʼ
Das Gewölk sich zu Bergeskamm, —
Da barst es in Flammen: herangestürmt
Kam blitzschnell ein wilder Stamm.
2
Fürst Boriwoj fiel in der grausamen Schlacht,
Des Fürsten Schatze sind fortgebracht,
Zu Asche Haus und Hof gebrannt,
Die Weiler mit feurigen Pfeilen berannt,
Die streitbaren Männer erliegen dem Beil,
Die Jungfrau’n sind Beute zu bieten feil,
Die Gaue verheeret weit und breit:
Erbarme Dich, Jesu, der Christenheit!
 
3 So gedenken noch landläufige Lieder, die aus jenen bösen Zeiten herüberklingen, der schweren Heimsuchung, wodurch der mächtige Hort gegen die Agarener dem geplagten Christenvolke verloren ging.
4 Mittlerweile waren Uprawda und Lazarus selbander auf Streifen nicht gar weit; wie es vom Überfalle ruchbar wurde, jagten sie flugs mit ihren Mannschaften dahin, um die Gefangenen zu befreien.
5 Die Schar überrumpelte den sich langsam hinschleppenden weitläufigen
Zug und ward in einer blutigen Schlacht über die Rohfleischesser, die einen hartnäckigen Widerstand leisteten, Herr.
6 Wie ein Wolf unter Hetzhunden wütete Lazarus; schon war die eiserne Pickelhaube auf seinem Haupte durchgehauen worden, doch blieb er heil.
7 Simeon ward aber beim letzten verzweifelten Anprall der Heiden schwer verwundet; matt fiel er zu Boden, und eine Wolke umnebelte seinen Blick.
8 Allein der Kampf war schon ausgefochten und die wilde Reiterei zersprengt; die Feinde ergriffen die Flucht und verließen die Beute.
9 Unter den Entführten befand sich Gorislawa; die Fürstentochter war dem großen Chan bestimmt zum Ehrengeschenk.
10 Kaum zur Besinnung gekommen, wurde Simeon mit der Nachricht vom gewonnenen Siege und von seiner Braut Rettung aus Lazarusʼ Munde begrüßet und belebt.
11 Er sammelte den Rest seiner Kräfte und gab, die Ohnmacht überwindend, dem lieben Bruder ein feierlich Gebot:
12 «Um des Herrn Jesu Christi willen, Lazare, bitte ich dich: wähle zwei windschnelle Rosse, führe meine Braut zu dir daheim, unter deiner Eltern sicheres Obdach.
13 Dir sei sie, bis ich gesunde, anvertraut; sollte ich aber nach Gottes heiligem Ratschluß nicht wieder kommen, nimm sie du selbst, so du dann an ihr Gefallen findest.
14 Sind wir doch durch der Kreuze Tausch zu lieben Brüdern gesegnet».
15 Und es schwor ihm Lazarus den heiligen Schwur, das er seinem brüderlichen Willen Folge leisten und die Jungfrau bis zu seiner Rückkunft ehrfürchtig schützen und bewahren werde;
16 Sollte aber der Herrgott den Bräutigam zu sich rufen, so wolle er sie mit Freuden und Liebe sich zu Weibe küren.
17 Gen Abend geschah es; Nachtdunkel und Tagesmüh geboten Ruhe; schon vor dem Sonnenaufgang aber schaute Lazarus nach Gorislawa.
18 Und wie sie vor ihm den lichten Schleier hob, da erstaunte er im Herzensgrunde; betroffen stand er vor ihr und voller Scheu.
19 Solch Frauenschönheit, zart und hoch, hatte er seines Lebens nicht gesehen: ein süßer Schauer kam ihn an, und er senkte die Augen.
20 Doch da führte man ihnen gerade die Pferde vor, und sie jagten eilends von dannen.
 
IX.
1 Sie ritten tagüber Ros an Ros und sprachen zu einander kein Wort.
2 Da aber die duftige Steppe dahinten lag im Dämmertau und der Vollmond den Waldsaum beschien, schwangen sie sich aus dem Sattel zur Rast.
3 Und wie sie da saßen auf einer lichten Au, an eines Baches Ufer, der sich weithin im Mondschimmer schlängelte durch Weidengebüsch und Farn,
4 Hub Gorislawa eine seltsame Weise an: keinen Klageruf nach der Waisen Brauch, noch Trauergesang, sondern ein heidnisch Hochzeitslied.
5 Und der Jüngling entsetzte sich ob der Lästerung, und es fiel ihm ein, sie sei eine Hexe aus der Brut der Sirenen, so den Wanderer in Wollust und Verderben einlullen mit ihrer Stimme süßem Klang.
6 Also lautete das Lied:
 
Am lohen Fels Alátar,[2] am weißen Zauberstein,
Da kroch ein Schlangenkönig hervor im Mondenschein,
Und aus der Nachbarhöhle, voll grimmer Liebesbrunst,
Schlich ihm die Braut entgegen und buhltʼ um seine Gunst.
Sie loht und droht und fliehet, und lockt zu süßer Minn’,
Und ringelt sich und züngelt, die bunte Zauberin.
 
7 Aufschrie Lazarus, den Gesang unterbrechend: «Du singest zur Unzeit ein unheimlich Lied; ein neues Unheil rufst du heran».
8 Sie starrte ihn mit ihren dunklen Augen an und stammelte vor sich hin: «Drachenblut — Zauberglut — Gorynja schüret — Jegórij führet».
9 Und wie er staunend schwieg, setzte sie, wie aus einem Traume erwachend, hinzu: «Ein Reich würde ich dir schon als Knaben herbeizaubern, aber du wirst auch ohne mein Zutun einst König werden».
10 Lazarus erzitterte, des Traumgesichts seiner Mutter eingedenk, wie sie’s ihm vor Jahren erzählt und auf Jegórijs wunderbare Führung in seinem Leben gedeutet hatte, und frug: «Wie weißest du darum?»
11 Sie erwiderte: «Ich sehe hinter dir einen goldenen Pfeil», — und stimmte ihr Lied aufs neue an:
 
Hinweg, beschwingter Wächter! Spähʼ nicht, du Himmelsaar,
Wie wilde Hochzeit feiert das wütige Schlangenpaar!
Umhülle dich mit Wolken! Weh dir, wenn deine Klauʼ
Die trutzige Braut entrücket in dein Gezelte blau!
Sie will zu Tode stechen und rächen sich am Raub:
Wirst, wonniglich umschlungen, hinstürzen in den Staub.
 
12 Sie brach ab und redete den Jüngling mit grausamen Lächeln an: «Ist auch mein ander Lied dem gestrengen Herrn nicht recht nach Herzenslust geraten?
13 Eine Kurzweil wollte ich dir gewähren mit sinnigen Rätseln. Hast du des Wortes Sinn erfaßt vom schlimmen Fange, von der schnöden Schlange?»
14 Lazarus antwortete: «Tückisch sind deine Rätsel; bin nicht Schlange genug, die Weiberlist überlisten zu wollen. Am schärfsten denket der Mann mit seinem Schwerte, so alle Knoten löset; alle Schlingen fürwahr macht es mit einem Schlage zuschanden».
15 Sprach sie: «Zu Tode stechen kann ich wohl, bin doch deines Geblüts; doch ist mir die Weiberlist zuwider.
16 Frei und unverhohlen sei’s gesagt: lieb hab ich dich, Otterling! Dich allein habe ich in der ganzen Welt lieb.
17 Blut ruft Blut und will kein fremdes. Deinergleichen bin ich so im Minnelohn wie auf dem goldnen Tron».
 
X.
1 Aufruhr und Ärgernis brachten diese Worte in des Jünglings Seele, als wären bleischwere Tiefwasser, die in ihrem Dunkel schliefen, zuerst aufgewühlt worden.
2 Ja, ihm war schon, als wollten jene düsteren Wasser, gewaltig angeschwollen, im wirren Wirbeln seinen Willen verschlingen.
3 Indes aber sein inneres Licht nur noch trübe schien und eine blinde Begierde sich seiner Seelenfeste frohlockend bemächtigte, entbrannte in ihm plötzlich, gleichwie des Feuers Wut gegen die Urfeindin Flut, ein heller Zorn.
4 Nun faste er unter des Zornes Stachel Mut; und nachdem er all seine Kraft zusammengenommen und sein Herz bewaffnet hatte, richtete er an das wilde Weib ein rügend Wort:
5 «Magst du auch alle Gottesfurcht verhext haben, so will ich für mein Teil doch nicht meineidig werden: habe ich ja deinem Bräutigam den Brudereid geschworen und das Kreuz darauf geküsst, dich unberührt zu bewahren».
6 Und er schleuderte seinen bloßen Degen unter ihre Füße hin den Bach entlang, und sprang selbst über den Bach, und rief laut aus:
7 «Wie dieses strömende Wasser uns trennet und wie dieses blanke Eisen uns scheidet, also seien unsere Leben geteilt und unsere Seelen entzweiet, und unsere Wege mögen auseinander laufen».
8 Da stand Gorislawa auf, und hub die Waffe, und drückte darauf ihre Lippen inbrünstig, und redete zu ihm bachüber mit finsterer Glut:
9 «Das Kreuz hast du geküßt und mit einem Kusse zwei Seelen verraten.
Bedenke dein Gewissen.
10 Stirbt Simeon, so bin ich ja dein, wie er’s gewollt. Was ist nun also dein Abschwören? Eine Feigheit ist es und ein Doppel verrat.
11 Stirbt aber der Edle an seinen Wunden nicht unter dem Kriegszelte, so wird er durch meine Hand umkommen im Brautgemach. Nicht umsonst hast du mir ein Schwert zugeworfen auf meinen Pfad.
12 Mein Seelenheil will ich einsetzen, aber ihn, den Guten und Edlen, doch umbringen um deinetwillen, der du in deinem Geheimen und Innersten weder edel noch gut bist; denn so will es meine Liebe zu dir, seit ich dich zum ersten Mal erblickt habe.
13 Bist du in Wahrheit willens, mich unbefleckt zu bewahren und heimzuretten? Bewahre dann meine Hand rein vom Blut, rette du meine Seele.
14 Löse mich aus den Erbbanden der Schlange, wie der heilige Jegórij einst die dem Drachen preisgegebene Königstochter erlöset hat; und er wird in dir seine Kraft zeigen.
15 Lieferst du mich aber meinem Verlobten aus, so wirst du am Untergang beider schuldig werden.
16 Tust du’s, dann ist in dir die Schlange stärker denn Jegórijs Licht; ja, du selbst wirst dich in den kriechenden Zorn verwandeln, so die schnellen Füße dich verraten und ihren Dienst verweigern dem Otterling».
17 Und sie trat in des Baches Fluten und warf ihm das schwere Schwert hinüber, und sagte hohnlachend:
18 «Dies ist also mein Rätsel, so du zu enträtseln hast: wie küsset man das Kreuz, ohne den Gekreuzigten zu verraten?»
19 Nicht getraute sich der Jüngling, ihr Gegenrede zu halten, nicht einmal die Augen auf sie zu heben; denn gleich heftig wurde er von den gegen einander ringenden Leidenschaften bestürmt, und es gereute ihn schon, durch eine überschwängliche Aufwallung seinen inneren Zwist entblößt zu haben.
20 Schweigend sprangen sie beide wieder in den Sattel; schweigsam setzten sie ihre Reise neben einander fort bis zum Tagesanbruch,
21 Da sie an der Ortschaft gelangten, wo Davids Getreue saßen: von dorther entsandte Lazarus seine Schutzbefohlene zu seinen Eltern mit einem sicheren Geleit;
22 Er selbst aber kehrte um und ritt des Weges nach der wilden Flur, wo Simeons Feldlager aufgeschlagen war.
 
XI.
1 Mit einem harten Fieber behaftet, schwebte Simeon wochenlang zwischen Leben und Tod; Lazarus aber wachte am Krankenlager finster
und trüb.
2 Da schlich unter das Gezelte der einäugige Schelm und Landstreicher, — Tschighir hieß des Überläufers Name, — der bei der Ritterschaft dienstlich war als Späher und Dolmetscher und Pferdezähmer und Wundarzt, je nach Bedarf.
3 Der trat zu Lazarus und flüsterte ihm ins Ohr: «Sieh, schläft er sich gesund aus, deiner Liebsten Dieb. Manchen Säckel voll Gold ist das Schlafmittel wert, wogegen kein Wecken hilft».
4 Zornentbrannt, ergriff jener sein Schwert und schlug den Meuchelmörder auf der Stelle tot.
5 Der Schlafende aber erwachte und sah sich um nach der Ursach des Lärms.
6 Unbedacht schrie Lazarus auf, voll Abscheu und Gram: «Den Schurken
habʼ ich erwürgt, der mir dein Haupt lieferte um Goldes Preis».
7 Der Kranke umarmte den über sein eigenes Geständnis entsetzten Jüngling zart und befragte ihn des weiteren nicht.
8 Von Tag zu Tag nahmen seither seine Kräfte zu, seine Seelenruhe und Heiterkeit ab.
9 Auch Lazarus irrte umher, als wäre er von Sinnen, schwermütig und wild.
10 Als der Geheilte endlich stark genug war für einen langen Ritt, traten beide mit ihrem Gefolge die Reise nach Lazarusʼ Heimstätte an.
11 Und es traf sich unterwegs, das sie dem übrigen Haufen um eine Strecke dermasen vorangeritten waren, das niemand ihr Gespräch belauschen konnte.
12 Sprach Simeon: «Lazare, es krächzet mir der weissagende Rabe, du habest deine blutsverwandte Gorislawa gar lieb gewonnen; lieber habest du sie als deinen genannten Bruder».
13 Lazarus senkte das Haupt und schwieg eine Weile; dann gab er zur Antwort:
14 «Du bist mein älterer Bruder und der weisere von uns beiden: von dir möchte ich mich belehren lassen.
15 Auf daß ich eine Gewißheit davon habe, was mir widerfahren sei und mir alle Ruhe nehme seit dem Tage, da ich ihr Geleit gab.
16 Will ich doch den in mich gefahrenen Geist erkennen, der mich besessen hält und meinen Sinn so sehr verdüstert, daß ich selber nicht weiß, was diese Wut und Glut sei, die mich verzehret, ob sie Liebe heiße, ob grimmer Haß».
17 Simeon entgegnete: «Von euch, Gorynjas Nachkommen, gilt der Spruch: Blut ruft Blut, Blut ringet gegen Blut.
18 Hart ist das Übel, so dich befallen, doch nicht härter denn du selbst; und so wirst du’s überstehen.
19 Denn es ist dir zu eigen gegeben ein inwendig Heilmittel gegen den Liebestrank; und dieses Gegengift ist dein Herrscherwille.
20 Diejenigen aber, denen nichts über ihre Liebe geht außer Gott und Seinem Gebot, siechen an ihrem Herzeleid hin, wie die Ähren ohne Erdenfeuchte und Himmelstau».
21 Rief Lazarus auf: «Kein Herzeleid will ich dir antun; lieber mag ich all Leidwesen herablenken auf mein eigen Haupt».
22 Nachdenklich wurde Simeon; da begann er wieder zu reden, und sprach also:
23 Meineid und Schande ist es, wenn die durch der Kreuze Tausch Verbruderten mit ihrem Leben geizen, da es gilt, des Bruders Leben mit dem eigenen abzukaufen.
24 Meineid und Schande ist es, wenn sie einander beneiden, sei’s um Ehrʼ und Gewinn, sei’s um die holde Minn’, indem jeder für sich begehret, was der andere ihm nicht willig gönnt.
25 Wohl anders ist es, so Gott will, mit uns bestellt, zumal da wir fest glauben, daß Er allein weiß, was jeder bedarf.
26 Höre nun auf mein Wort, Bruder: ihr stammet beide von Jegórij her; zu ihm sollet ihr denn euere Zuflucht nehmen.
27 Es ist aber in deinen Landen ein geweihter Ort, wo Gottes Krieger sichtbar waltet: er spendet daselbst den Kranken Heilung, den Weibern Fruchtbarkeit, den Männern Mut und Kraft.
28 Und es geht das Gerücht: wer mit Gebet Wasser getrunken aus dem Quell, der dorten fließet, dem offenbare Jegórij im Traumgesicht, was ihm zum Heile gereiche; dem weise er auch in seinem Lebenswandel den rechten Weg.
29 Sobald wir nun an jenem Gau werden angelangt sein, laß uns selbander allzuvörderst die rühmliche Wallstätte aufsuchen nach Jegórijs Gericht.
30 Und wie dein Schutzheiliger uns bescheidet, wollen wir geloben, uns fest und treu daran zu halten, ohne Ausfluchte und Hinterlist».
31 So sprach Simeon, und Lazarus gab ihm willig Gehör; sie überlegten es sich hin und her und beschlossen hinzugehen, gebe es was es wolle.
 
XII.
1 Da standen beide Gefährten — der ältere andacht- und demutsvoll, der jüngere düster und irreblickend — in des Waldes Einsamkeit, wo das große Kreuz aufgerichtet war über dem wundertätigen Brunnen.
2 Behende tat Simeon, was zu verrichten war: nach kurzem Gebet und Wassertrunk legte er sich ins hohe Gras unter dem Kreuze nieder, wie man die Leichen in den Sarg legt, mit den kreuzweise auf der Brust übergeschlagenen Händen, und es umfing ihn alsobald ein sanfter Schlummer.
3 Lazarus aber zagte und zauderte und schaute untätig zu; wie jener da ruhte; und es schien ihm die Gestalt des Schlummernden von einem rosigen Schimmer umflossen.
4 Denn eine zarte Rote überflog im Schlafe seine hohlen Wangen, als hätte sie die Morgensonne berührt, die ihm im Traumgesicht aufgegangen
wäre.
5 Da geschah es: es wich Lazarus’ Engel von seiner Seiten und trat zu ihm der Versucher; der reizte ihn zum Zorn und Haß gegen Simeon und blies ihm allerlei Unflat und Ärgernis in die Ohren, und sagte:
6 «Also wird dieser Frömmler sich neben seinem Eheweibe ausruhen nach genossener Wollust und die noch vor kurzem widerspenstige, nun aber durch seinen Liebreiz überwältigte Beischläferin ihn mit lüsternem Stolz bewundern.
7 Auch des armseligen Otterlings wird sie sich wohl mit hämischem Lächeln erinnern, den ihr hehrer Recke im Vorbeigehen unversehens hat in den Staub getreten».
8 Und abermals sprach der Teufel zu Lazarus: «Voreilig und unbedacht hast du den einäugigen Tschighir erschlagen, der dir den Weg ebnete zu Minnehuld und Zaubermacht. Nun sollst du selbst dein Schwert ziehen und deines errungenen Schatzes Dieb töten».
9 Nicht gewann’s Lazarus über sich, seinen Blick abzuwenden vom Schlafenden; der Teufel aber flüsterte ihm unablässig ein: «Versäume nicht wieder den günstigen Augenblick und ermorde ihn mit jenem Beile, so da drüben im Baume steckt.
10 Und wirf dann das Beil und was ihr beide von Gold und Juwelen an euch habet, in den tiefen Brunnen hin, und verwunde dich selbst mit deinem Dolche, auf daß es heiße, ihr seid von Räubern überfallen worden».
11 Erwiderte Lazarus: «Bin ich denn ein Wegelagerer? Eher will ich mit meinem Dolche erst ihn, sodann mich selbst durchbohren».
12 Da nahte sich ihm der Engel von hinten wieder und faßte den Jüngling
bei den Schultern und kehrte ihn mit Gewalt nach rückwärts, damit seine Augen den Ruhenden nicht sähen.
 
XIII.
1 Gleich einem mit dem Bannfluch Beladenen, schritt Lazarus gesenkten
Hauptes von der heiligen Stätte weg.
2 Und wie er sich in der grünen Einöde umschaute, da trat ihm vor die Seele die mondbeschienene Wiese mitten im Walde, wo er mit Gorislawa rastete nach überstandener Not und Müh.
3 Und es kam ihm in die Erinnerung, wie sie ihn dort mit ihren dunklen Weisen lockte und mit ihren dunklen Augen in seinem Herzen las wie in einem aufgeschlagenen Buche;
4 Sein geheimstes Sinnen und Trachten durchschaute sie, als waren sie beide in zweien Gestalten ein einzig Wesen: was er sich nicht einmal in Gedanken beim Namen zu nennen getraute, das sprach sie frei aus und verhieß sicher.
5 Zum Manne fürwahr hat sie in jener Nacht den Knaben gebildet, — ja zu einem wundermächtigen Zauberer:
6 indem sie ihm einen solchen Wagemut und ein so übermäßiges Selbstvertrauen einflößte, als wäre ihm alle Macht auf Erden gegeben:
7 Benannt — festgebannt; erschaut mit Verlangen — geklaut und gefangen; gewollt — dein Sold.
8 Und wie im Rausche floß durch seine Adern ihrer zarten und dreisten Worte Feuertrank: «Lieb hab ich dich, Otterling; dich allein habe ich in der ganzen Welt lieb; deinesgleichen bin ich wie im Minnelohn so auf dem goldenen Tron».
9 Und es zog ihn an sie, die Dräuende, eine wütige Begierde, die sich mit der Sünde sättigen will, wie ein Löwe mit frischem Blut.
10 Nun nahm der Teufel vor ihm Gorislawas Gestalt und er sah sie unweit sitzend im Farngewüchs und er horte ihr süßes Lispeln:
11 «Willige nur ein in seinen Tod um meinetwillen, sogar die wilden Wölfe gehorchen ja deinem einzigen Ansinnen».
12 Und es sah sich Lazarus nach Simeon um.
 
Предварительная подготовка текста
К. Ю. Лаппо-Данилевского
 
 


[1] Mit dieser Formel wurde der Heiratsantrag von Seiten der Angehörigen des Bräutigams eingeleitet.
[2] Der weiß glühende Fels Alátar, oder Alátyr, kommt i[n der] russischen Folklore oft vor, als einer der dumpfen Nachklänge einer uralten magischen Kosmologie.

 

 199034, Санкт-Петербург, наб. Макарова, 4.

Тел.: (812) 328-19-01.

Факс: (812) 328-11-40.

 

 

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